Gespräch mit Perry Payne
"Beim Schreiben gelange ich meist in einen Bereich, den ich im Alltag übergehe und dessen Gefühle ich normalerweise wenig Platz gebe."
Perry: Deinem Geburtsort Wilhelmshaven hast du bereits nach der Schulzeit den Rücken gekehrt und bist durch Europa gereist. Doch deine Heimat fandest du wieder in Deutschland, am Niederrein. Neben deiner Arbeit in der Kinderbetreuung und als Integrationskraft hast du immer noch Zeit und Muße zum Schreiben. Dein letztes Buch war ein Ratgeber über die fiesen kleinen Insekten, der sich äußerst spannend ließt. So schreibst du über Schmetterlinge, die in Wahrheit sexsüchtige Falter sind oder über herabfallende Spinnen, wegen denen ein Spaziergang ohne Schirm nicht ratsam wäre.
Mich und sicherlich die meisten „Sofatalk-Leser“ würden gerne erfahren, wie du auf diese verrückten Tatsachen gekommen bist, Sabrina Chachulski? Aber zunächst begrüße ich dich ganz herzlich zu unserem fünfzigsten Talk. Ich freue mich, dich heute als Talkgast in diesem Format zu haben.
Sabrina Chachulski: Vielen Dank für diese herzliche Begrüßung und Ankündigung. Besonders zu einem so runden „Geburtstag“ – den 50. – eingeladen zu sein, über meine Passion zu reden, freut und ehrt mich sehr.
Ja, das ist schon ein verrücktes Thema. Tatsächlich sind das Buch und seine Geschichten durch meine Arbeit als Integrationskraft entstanden. In der Zeit habe ich einen Autisten in seinem Schulalltag an einem Düsseldorfer Gymnasium betreut. Durch die enge Zusammenarbeit mit ihm sprachen wir oft über seine Lieblingsthemen, was u.a. Biologie war. Ich selbst interessierte mich zu dem Zeitpunkt wenig dafür, außer wenn es um den menschlichen Körper ging. Das änderte sich aber in der Zeit, weil ich während meiner Arbeit mit ihm in „unserem“ Biologieunterricht einen sehr passionierten und engagierten Lehrer hatte. Bei ihm machte das Fach sehr viel Spaß (im Gegensatz zu meiner Schulzeit) und erweckte ein Interesse an biologischen Themen. Daneben stellte ich mir Fragen und begann sie in Eigenrecherche zu beantworten. Die teils ungewöhnlichen Antworten führten dazu, dass ich meinem Betreuungskind Fakten über Tiere präsentierte, die sogar er als passionierter Leser nicht kannte. Als der Lehrer dann aufgrund von seiner Corona-Erkrankung wochenlang ausfiel, entwickelte sich aus den Fakten die „Bio-Geschichte des Tages“, das hieß, dass ich meinem Kind jeden Morgen vor der Schule eine besondere Geschichte über Tiere erzählte. Ich gestalte sie spannend, aber vor allem humorvoll, weil ich selbst Wissen mit Spaß verbinde. Nach einiger Zeit dachte ich mir, dass es zu schade wäre, die Geschichten nur ein Mal zu erzählen und zu vergessen. Deshalb schrieb ich sie auf. Das war eine große Herausforderung für mich, weil ich ungern umgangssprachlich schreibe, doch gerade das und die ungewöhnlichen Themen bereiteten mir sehr viel Freude. Als sich die Geschichten sammelten, überlegte ich, daraus ein Buch zu machen. Insekten und Spinnen waren dabei die Tiere, die meiner Ansicht nach die „schönsten“ Geschichten hatten, sodass ich mich auf diese spezialisierte. Ich suchte also Fachliteratur, las etliche Bücher und recherchierte im Internet und erweiterte meine Sammlung an Geschichten so weit, dass es am Ende ein sehr informatives, aber auch humorvolles Buch ist.
Perry: Sich mit Insekten zu befassen und sie zu beobachten oder zu studieren, ist schon spannend. Eines Tages kam ich auf meine Terrasse und sah dutzende Spinnen von zwei Seiten der Terrasse auf mich zukommen. Das waren völlig unterschiedliche Tierchen. Und dann sah ich, warum sie auf die Terrasse flohen. Direkt daneben liefen Wanderameisen über das Grundstück. Die schwarze Kolonne war etwa einen Meter breit. Keine Spinne oder ein anderes Insekt hätte das überlebt. Die Wanderameisen nehmen alles auf ihrem Weg mit, was sie bekommen können. Nach etwa zehn Minuten war das Spektakel vorbei und die letzten Nachzügler verschwanden über die Wiese in den Wald.
Ich könnte sicher für dein Buch noch einiges aus eigener Erfahrung beitragen. Denn in meiner Wahlheimat Paraguay, einem subtropischen Land, kreucht und fleucht deutlich mehr als in Deutschland. Möchtest du die Geschichte hören, als ich von einem Skorpion erwischt wurde?
Sabrina Chachulski: Von einem Skorpion? Aber sicher!
Perry: Okay, ganz kurz: Ich habe Steine gestapelt und darunter saß mindestens ein kleiner Skorpion, der sich gestört gefühlt hatte und mich flink in den Finger stach. Die erste Minute danach hätte ich darauf reagieren können. Allerdings hatte ich damals noch keine Erfahrung und wusste nicht so recht, was zu tun ist. Ich lief zunächst ins Haus. Ab der zweiten Minute begann schon eine heftige Reaktion. Das Schwitzen begann und ich fühlte mich innerhalb von Sekunden wie in der Sauna – schweißüberströmt. Dann musste ich mich erstmal hinlegen und konnte mich von da an nicht mehr bewegen, nicht telefonieren oder gar aufstehen. Später stellte sich heraus, dass es ein anaphylaktischer Schock war, der behandelt werden musste. Mit der richtigen Medizin habe ich ihn in wenigen Stunden überwunden. Nach drei Tagen war dann wieder alles in Ordnung. Heute weiß ich, dass unter Steinen Spinnen und Skorpione sitzen können. Unter Holz sind es eher die Schlangen. Ich arbeite im Garten jetzt primär mit Handschuhen.
Viele dieser kleinen Plagegeister mag niemand, um es milde auszudrücken. Diese teils giftigen Tierchen werden gemieden und oft bekämpft. Du hast dich ihnen angenommen und gar eine humorvolle Seite an ihnen entdeckt. Bist du generell ein fröhlicher Mensch?
Sabrina Chachulski: Eigentlich mochte ich Skorpione, aber jetzt? Das müssen schreckliche drei Tage gewesen sein. Den einzigen Skorpion, den ich so nah an mich herankommen lasse, ist meine Mutter, die vom Sternzeichen Skorpion ist.
Aber zu deiner Frage: Ja, ich bin prinzipiell ein sehr fröhlicher Mensch. Das ist ein Grund, warum ich die Geschichten humorvoll halten und nicht ein ödes Fachbuch schreiben wollte. Natürlich gibt es Phasen, in denen ich deprimiert bin, aber ich weiß immer, dass es wieder bessere Zeiten geben wird. Es ist wie das Lied von Pete Seeger, das später von den Byrds gecovert wurde: „There is a season for everything. Turn, turn, turn.“ Interessanterweise schreibe ich trotz meiner Fröhlichkeit sonst eher ernst und mit deprimierendem Grundton, da es mir leichter fällt und oft auch interessanter ist. Deshalb war ich mir unsicher, ob ich überhaupt ein humorvolles Buch schreiben kann.
Perry: Vielleicht verarbeitest du mit dem deprimierenden Grundton in deinen anderen Büchern auch ein paar innere Konflikte, die du sonst nicht ausleben könntest. Jedenfalls hast du mich neugierig gemacht. Was hast du für weitere Bücher geschrieben? Und wie lange schreibst du bereits?
Sabrina Chachulski: Dass ich etwas innerlich verarbeite, davon bin ich von überzeugt. Beim Schreiben gelange ich meist in einen Bereich, den ich im Alltag übergehe und dessen Gefühle ich normalerweise wenig Platz gebe. Es ist Mediation und Therapie für mich zu schreiben. In meinen zwei Kinderbüchern weniger, obgleich ich versuche, dort ebenfalls über Gefühle und Emotionen zu schreiben, die für mich sonst zu „märchenhaft“ dargestellt werden. Aber in meinem Bildungsroman „Gemeinsam allein“ beschäftige ich mich sehr damit. Auf dem ersten Blick wirkt es wie eine Liebesgeschichte, aber im Grunde genommen geht es um einen Mann, der hinterfragen muss, was Alleinsein und Einsamkeit bedeuten. Es beeinflusst auch seine Beziehungen, die er führt, nicht nur mit seiner Partnerin, sondern auch Freunde und Familie oder in der Gesellschaft. Wie weit geht er und auch wir, um dieses nagende Gefühl der Einsamkeit zu umgehen? Das ist mein Grundthema, weil es mich seit meiner Kindheit beschäftigt. Als Kind war ich in einer Großfamilie nie allein, aber was ist mit einsam? Lange dachte ich auch, es seien absolute Synonyme. Doch das sind sie nicht. Mein Lesedrama „Brandt alias Frahm“ wurde ebenfalls davon inspiriert, denn in diesem versuche ich u.a. ein Bild von dem jungen Bundeskanzler Willy Brandt zu zeichnen, der sehr zurückgezogen und deprimiert war, auch weil er in eine Familie und Klasse hineingeboren wurde, die nicht zu ihm passte. Das verbindet mich mit ihm. Und das führte zu dem Buch. Auf meinem Stapel bisher unveröffentlichter Kurzgeschichten und Romanen geht es meist um Gefühle, die mich beschäftigen. Von dem Blickwinkel ist vieles, was ich schreibe, autobiografisch, zumindest teilweise. Ich setze diese Emotionen nur in einen anderen Kontext.
Zu deiner Frage, wie lange ich schon schreibe: Eigentlich gar nicht so lange. Obgleich ich schon seit meiner Kindheit schreiben wollte, habe ich erst vor etwa neun oder zehn Jahren, als ich etwa 25 war, wirklich begonnen, mich hinzusetzen und zu schreiben. Der Anfang machte Rock-Musik.
Perry: Das Schreiben von Romanen kann auf verschiedene Weisen die Persönlichkeit eines Autors beeinflussen. Da ist die Selbsterkenntnis, die Empathie, der Umgang mit dem kreativen Ausdruck, die Reflexion über spezielle Themen und Werte und Stressbewältigung. Dieses Thema vertiefe ich in einem „Sofa-Talk“ in der kommenden Woche. Denn auch mich hat das Schreiben beeinflusst. Aber das ist sicher personenbezogen und kommt wohl auf die eingebrachten Emotionen an.
Erzähle mir mehr über deinen persönlichen Anfang zum Schreiben. Was hatte Rockmusik damit zu tun?
Sabrina Chachulski: Dann freue ich mich jetzt schon auf deine Ausführungen zu dem Thema.
Für die Hintergründe meines Schaffens muss ich etwas ausholen; ich hoffe, dass es in Ordnung ist. Ich liebe Bücher, seit ich denken kann. Und für mich stand früh fest, dass ich ein Mal ein Buch mit meinem Namen als Autorin in der Hand halten möchte. Das war mein Traum mit etwa 10 Jahren. Was ich aber nicht wusste, war, wie dieser Traum, dieser Wunsch, Realität werden konnte, weil ich mir sicher war, kein Talent zum Schreiben zu haben. Ich weiß noch, dass ich zwischendrin in der Schule kreativ schreiben sollte und ich es schrecklich fand. Ich sagte mir, keiner würde jemals daran Interesse haben, es zu lesen. Als ich ein paar Jahre später in die Realschule kam, war mein Klassenlehrer selbst Autor eines Buches (mittlerweile drei), und ich dachte mir weiterhin, dass ich das nie schaffen könnte, so zu schreiben. Eine Mitschülerin in der Zeit war ebenfalls eine talentierte Schreiberin und musste, wenn wir kreativ werden durften, regelmäßig ihre Geschichten vorlesen. Sie schrieb sehr gut und spannend und ich beneidete sie für das Talent. Ich selbst wagte nicht einmal einen Versuch, etwas außerschulisch zu schreiben. Ich war überzeugt, nicht so zu schreiben, dass es jemanden interessieren könnte. Das änderte sich, als ich mit Anfang 20 einen persönlichen Tiefpunkt erlebte. Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Und in der Zeit entdeckte ich Musik, der ich mich bis dato zu großen Teilen auch verweigerte, weil sie zu sehr Party und Lärm bedeutete, was ich beides nicht mochte. Vor allem war es der Rockmusiker Bruce Springsteen und sein Lied „The River.“ In diesem zeichnet er das Bild eines Charakters, der große Hoffnungen für sein Leben hatte, die jedoch zerbrochen wurden. Die Erinnerungen daran verfolgen ihn. Am Ende fragt er dann: „Ist ein Traum eine Lüge, wenn nichts daraus wird, oder ist es etwas Schlimmeres?“ Ich fühlte mich angesprochen und verstanden auf eine Weise, die ich nie zuvor erlebt habe. Mit Bruce Springsteen habe ich die Rockmusiker für mich entdeckt, die für mich vor allem eins gemein hatten: Sie haben eine Passion und eine Stimme, die sie hörbar machen wollten. Und deshalb schrieben sie. Bruce Springsteen, Bono oder Brian Fallon – solche Menschen haben keine formale Ausbildung als Literat, keine Besonderheiten an sich. Sie schreiben, weil sie schreiben wollen. Und es interessiert sie nicht, ob sie Talent dafür haben. Das hat mich inspiriert. Erst ab dem Zeitpunkt nahm ich einen Stift in die Hand und schrieb. Talent hin oder her, ich kann bis heute nicht sagen, ob ich es habe. Aber ich schreibe. Nicht für die Leser, nicht für den Erfolg, sondern ich schreibe für mich. Und wer Lust hat, den lade ich dazu ein, es zu lesen. Und mit 31 Jahren war dann mein Kindheitstraum wahr geworden. Und ich habe noch so viele Geschichten, die ich erzählen möchte.
Perry: Schreiben ist ein Handwerk wie jedes andere. Mit viel Übung wirst du noch besser, zumindest routinierter, und lernst die unterschiedlichen Schreibtechniken mühelos miteinander zu kombinieren.
Zum Abschluss möchte ich nochmal auf dein Insektenbuch zurückkommen. Hast du einen kurzen, humorvollen Textausschnitt parat?
Sabrina Chachulski: Danke für die Ermutigung. Das glaube ich auch. Und wichtig für mich ist es, weiterhin an mich selbst zu glauben, genug Selbstbewusstsein zu haben, zu schreiben und für mich authentisch zu sein. Das möchte ich auch an jeden weitergeben, der schreiben will: Schreib einfach!
Einen Textausschnitt habe ich natürlich für dich:
"Es gibt eine Frage über Insekten, für die ich keine zufriedenstellende Antwort bekommen habe: Warum nehmen wir „Bienchen und Blümchen“, wenn wir von menschlicher Aufklärung sprechen wollen? Erstens sind wir keine Pflanzen und zweitens unterscheidet sich unser Sexleben sehr von dem der Bienen. Unsere Fortpflanzung sähe so aus: Wären Sie eine männliche Biene, würden Sie als Erwachsener nur umherschwirren, um möglichst vielen Königinnen ihr Sperma in den Bauch zu pumpen. Vater werden sie sehr wahrscheinlich, aber ihre Kinder lernen sie nie kennen, weil sie im Verhältnis zu Ihrer Sexpartnerin schon nach kurzer Zeit tot sind. Wären Sie eine weibliche Biene, sähe es nicht besser aus. Zu 99% würden Sie als Jungfrau sterben und nur tagein, tagaus arbeiten. Ihr Job wäre es, eine einzige Biene zu umsorgen, die das Sperma von Männern gesammelt hat und deren Nachwuchs zu versorgen, weil sie für den Rest des Lebens dauerhaft Kinder bekommt. Bei den meisten Insekten, die in großen Völkern mit Königin leben, wie Ameisen, Wespen oder Termiten, ist es ebenfalls so. Ich wage mal die kühne Behauptung, dass Ihr Sexleben anders aussieht. Ein unpassender Vergleich also."
Ich konnte mich nicht entscheiden, also habe ich noch einen weiteren Textauszug:
"Das erste Experiment, bei dem ich große Schwierigkeiten hatte, in den Schuhen eines Biologen zu laufen, geht um Tests mit depressiven Fliegen. Zur Deutlichkeit noch ein Mal: Wissenschaftler haben Fliegen untersucht, die Depressionen hatten. Ich habe dazu so viele Fragen. Wie erkennt man kranke Fliegen? Woher weiß man von einer psychischen Erkrankung bei Tieren, die so klein sind? Ladet man sie ein, auf eine Couch Platz zu nehmen und ein Typ in der Art von Sigmund Freud befragt diese dann zu ihrem Leben? Oder wartet man an einem Bahnsteig, bis sich eine Fliege weit an dessen Rand stellt und kurz davor ist, vor einen Zug zu springen, nur um sie von dem Sprung abzuhalten und in eine Klinik einzuweisen? Die Antworten darauf sind leichter als gedacht: Wissenschaftler haben nicht auf depressive Fliegen gewartet; sie haben sie erschaffen! Fruchtfliegen wurden drei Tage permanentem Stress in Form von starken Vibrationen ausgesetzt. Das klingt auf Anhieb nicht besonders stressig. Bedenkt man jedoch, dass diese Fliegen nur zwischen zehn Tagen (Männchen) bis acht Wochen (Weibchen) leben, ist das anders. Umgerechnet für uns Menschen müssten es etwa sechs Jahre sein, in denen wir ununterbrochen das laute Gekreische eines Babys hören. Mich würde es kirre machen, die Fliegen dagegen machen es depressiv."
Perry: Vielen Dank für den überaus anregenden und sympathischen Talk. Ich hoffe, wir können schon bald das nächste Buch aus deiner Feder erwarten.
Sabrina Chachulski: Ich danke dir vielmals für die Möglichkeit, über mein künstlerisches Schaffen zu reden. Und dir und meinen Lesern sei versprochen: Das nächste Buch ist schon in Arbeit und kommt bestimmt. Es wird ein historischer Roman über eine Persönlichkeit, die sonst nur im Schatten ihrer kleinen Schwester steht.
(Das Gespräch führte der Autor Perry Payne für seinen Blog "Sofa-Talk". Link: SofaTalk24 Stand: 5.1.2024)
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